Gesetzliche Mindestlöhne sind ein Instrument zur Steuerung des Arbeitsmarktes im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dies ist auch außerhalb der europäischen Länder der Fall, z. B. in den USA, Kanada und Japan. Nach dem aktuellen WSI-Mindestlohnbericht 2024 verfügen innerhalb der EU 21 der 27 Mitgliedstaaten über einen branchenübergreifenden Mindestlohn, darunter Deutschland, Belgien, Frankreich und Luxemburg (Zypern führte 2023 einen Mindestlohn ein). Nur fünf Länder - Dänemark, Finnland, Schweden, Österreich, Italien - haben keinen branchenübergreifenden Mindestlohn, sondern tarifliche Löhne, die in den einzelnen Branchen festgelegt sind.1
Eine Analyse der bestehenden Mindestlöhne in der EU zeigt im Jahr 2024 drei große Gruppen: die der westlichen Länder sowie die der südlichen und östlichen Länder. Es gibt große Unterschiede, die Beträge liegen zwischen 14,86 € pro Stunde in Luxemburg und 2,85 € in Bulgarien.
Die Spanne der Löhne verringert sich, wenn man den Begriff der Kaufkraft berücksichtigt und Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde legt. Bulgarien (4,26 € KKS), Ungarn (5,12 € KKS) und Kroatien (5,76 € KKS) weisen aufgrund niedrigerer Preise deutlich höhere Werte auf, während sich bei Luxemburg und Irland (9,47 bzw. 7,57 € KKS) die relativ hohen Preise negativ auf die Kaufkraft auswirken. An der Spitze der europäischen Länder steht Deutschland mit einem Mindestlohn von 9,94 € (KKS) vor Luxemburg, Frankreich und Belgien dank verhältnismäßig moderaterer Preise.
Der Kaitz-Index ermöglicht es, die relative Höhe des Mindestlohns in einem wirtschaftlichen Umfeld zu definieren und unterstreicht die Bedeutung nationaler Regelungen. Indem er den gesetzlichen Mindestlohn und den Medianlohn zueinander in Beziehung setzt, zeigt er sehr unterschiedliche Kaufkraftniveaus in den einzelnen Ländern auf.
Innerhalb der Europäischen Union schwankt der Kaitz-Index zwischen 38,9 % (Litauen) et 66,3 % (Portugal). Im Jahr 2024 überschreiten nur drei Länder die 60 % 2, die als Armutsquote gilt, nämlich Portugal (66,3 %), Frankreich (60,9 %) und Slowenien (61,7 %). Luxemburg und Deutschland liegen darunter, und Belgien ist mit nur 40,9 % fast das Schlusslicht unter den EU-Ländern.
Im Herbst 2022 verabschiedeten das Europäische Parlament und anschließend der Rat einstimmig die Richtlinie 2022/2041 über angemessene Löhne in der Europäischen Union.3 Die Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit, um diese Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, d. h. bis zum 15. November 2024.
Diese Richtlinie bietet einen europäischen Rahmen für nationale Politiken im Bereich Mindestlohn. Sie zielt weder auf die Einführung eines einheitlichen Mindestlohns noch auf die Harmonisierung der Mechanismen zur Lohnfestsetzung ab. Ihr Ziel ist es, dass die Höhe des Mindestlohns von den Mitgliedstaaten angehoben wird, so dass alle Mitgliedstaaten über einen Mindestlohn verfügen, der die Armutsgrenze überschreitet. Laut der WSI-Studie sollten die Mindestlöhne der Lohnskala entsprechen und den Arbeitnehmern auf der Grundlage eines Vollzeitarbeitsverhältnisses in jedem Land ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Die Angemessenheit der Löhne im Hinblick auf den Lebensstandard wird in der Regel auf der Grundlage eines Warenkorbs von Produkten und Dienstleistungen (Nahrung, Unterkunft, Kleidung usw.) berechnet, der auch die Teilnahme an kulturellen, sozialen oder bildungsbezogenen Aktivitäten umfasst. Artikel 5(4) der Richtlinie gibt ebenfalls einen wertvollen Hinweis. Die Mitgliedstaaten müssen die Beurteilung der Angemessenheit von Mindestlöhnen anhand von Referenzwerten vornehmen. Ein angemessener Mindestlohn kann auch auf 60 % des Bruttomedianlohns oder 50 % des Bruttodurchschnittslohns festgelegt werden. In den westeuropäischen Ländern gehen die Diskussionen der Sozialpartner eher in die Richtung, dass Lohnerhöhungen festgelegt werden sollen, um das Kriterium von 60 % des Medianlohns zu erreichen. In Osteuropa wird die Grundlage von 50 % des mittleren Bruttolohns befürwortet.
In Ländern, in denen Mindestlöhne ausschließlich im Rahmen von Tarifverträgen festgelegt werden (insbesondere in den nördlichen Ländern), besteht keine Verpflichtung zur Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns. Die EU-Richtlinie schafft Anreize für eine Ausweitung des Geltungsbereichs von Tarifverhandlungen, insbesondere für Länder, in denen weniger als 80 % der Arbeitnehmer über einen Tarifvertrag verfügen.
Europa erlebte im Jahr 2023 eine beispiellose Inflation. Es kam zu starken Anstiegen der Nominallöhne. Diese Erhöhungen blieben unter der Inflationsrate, was zu einem Rückgang der Reallöhne führte, außer in Belgien und den Niederlanden.4 Die OECD fordert regelmäßige, d. h. alle zwei Jahre, stattfindende Überprüfungen des Mindestlohns, um den Lebensstandard von Geringverdienern zu schützen.
Man unterscheidet verschiedene Anwendungsbereiche. Die durch den Mindestlohn festgelegte Untergrenze gilt grundsätzlich für alle Arbeitnehmer gleichermaßen. Ausnahmen gelten jedoch für bestimmte Branchen oder Berufe oder für bestimmte Zielgruppen (Jugendliche, Praktikanten, junge Menschen in Ausbildung).
Variable Bestimmung und Anpassung der Mindestlohnsätze
Auch bei der Festlegung und Erhöhung des Mindestlohns gibt es Unterschiede zwischen den Staaten. Thorsten Schulten3, Experte für Arbeitsrecht und Tarifverträge beim WSI, nennt drei globale Modelle:
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Quellen:
1 Vgl. Lübker, Malte / Schulten, Thorsten (2024): WSI-Mindestlohnbericht 2024: Reale Zugewinne durch die Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie, Ausgabe 02/2024.
2 Niedriglohnschwelle ebenfalls auf zwei Drittel des Medianlohns gemäß OECD-Definition festgelegt
3 Vgl. Lübker, Malte / Schulten, Thorsten: WSI-Mindestlohnbericht 2023: Kaufkraftsicherung als zentrale Aufgabe in Zeiten hoher Inflation, Ausgabe 02/2023.
4 Euronews, Servet Yanatma (04.09.2023) : Les salaires réels en baisse en Europe : quels sont les pays les plus touchés ?
5 Vgl. Schulten, Thorsten (2008): Die Entwicklung in Europa - Geht der Trend in Richtung gesetzliche Mindestlöhne? Vortrag Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) - Hans Böckler Stiftung im Rahmen der UNIA-Fachtagung "Gute Arbeit zu fairen Löhnen", Zürich 2008, S.4.
In Frankreich waren am 1. Januar 2023 rund 3,1 Millionen Arbeitnehmer in Unternehmen des Privatsektors (ohne Landwirtschaft) direkt von der Neufestsetzung des SMIC-Stundenlohns betroffen, das sind 17,3 % der Arbeitnehmer. Der Prozentsatz befindet sich auf einem historisch hohen Niveau. Das inflationsbedingte Ausmaß der Aufwertungen führte zu einem mechanischen Anstieg der Zahl der Begünstigten. Der erhöhte SMIC hat nach und nach die Löhne eingeholt, die kaum über dem Mindestlohn lagen und die unverändert blieben. Die in den letzten Jahren geschaffenen Arbeitsplätze sind häufig in wenig qualifizierten Berufen zu finden. Die Erhöhung des Mindestlohns hat außerdem dazu geführt, dass die Branchen, die unterhalb des Mindestlohns liegen, Verhandlungen aufnehmen, um den Mindestlohn einzuhalten. Die Mehrheit der Frauen (57,3 %), der Beschäftigten in kleinen Unternehmen (mit weniger als 10 Beschäftigten) und der Teilzeitbeschäftigten erhält den SMIC. Im Beherbergungs- und Gaststättengewerbe ist der Anteil derjenigen, die von der Anhebung des SMIC profitieren, mit 39,8 % am höchsten.
In Deutschland profitierten laut Destatis 14, 8 % der abhängig Beschäftigten von der Anhebung auf 12 € zum 1. Oktober 2022, d. h. 5,8 Millionen Arbeitnehmer. Zwei Drittel davon sind Frauen. Betroffen sind vor allem die Gastronomie, aber auch der Handel, Transport und Logistik, das Baugewerbe, das Gesundheitswesen und die Chemiebranche.
In Belgien haben nach dem Obersten Rat für Beschäftigung und dem Zentralrat der Wirtschaft (CCE) im Jahr 2019 zwischen 2 und 3 % der Arbeitnehmer (ca. 68.000 Personen) ein Einkommen von das unter oder gleich dem RMMMG liegt . In Vollzeitäquivalenten ist die Zahl der Personen in den unteren Einkommenskategorien deutlich niedriger. Tatsächlich finden sich in dieser Kategorie viele Personen mit Teilzeitverträgen, sehr häufig mit dem Status einer Leiharbeitskraft. Leiharbeit, Einzelhandel sowie Arbeiterarbeit sind die Sektoren, in denen man die meisten Personen im RMMG findet. Die sehr niedrige Quote der RMMG-Bezieher lässt sich dadurch erklären, dass die im Rahmen von Branchentarifverträgen festgelegten Mindestsätze den nationalen Mindestlohn um etwa 15 bis 30 % übersteigen.
In Luxemburg erhielten 15 % der Beschäftigten den Mindestlohn, wobei 8,7 % den unqualifizierten Mindestlohn und 6,3 % den qualifizierten Mindestlohn erhielten (Stand März 2022). Die Bevölkerungsgruppen im luxemburgischen Mindestlohn sind in der Regel jünger und weniger erfahren als die Gesamtbevölkerung. Arbeiter sind in der unqualifizierten SSM-Bevölkerung in der Mehrheit. Der vorherrschende Wirtschaftszweig ist der Handel, sowohl bei den qualifizierten als auch bei den unqualifizierten SSM. Männer mit unbefristeten Arbeitsverträgen sind in der Mehrheit. Auf der Ebene des nicht qualifizierten SSM ist der zweitwichtigste Sektor das Hotel- und Gaststättengewerbe.
Die durch den Mindestlohn festgelegte Untergrenze gilt grundsätzlich für alle Arbeitnehmer gleichermaßen. Ausnahmen gelten jedoch für bestimmte Branchen oder Berufe oder für bestimmte Zielgruppen (Jugendliche, Praktikanten, junge Menschen in Ausbildung).
Die folgenden Tabellen geben einen Überblick über die Anwendungsbereiche und Ausnahmen, die in den vier Ländern der Großregion bestehen:
Doppelte Erhöhung des Mindestlohns (RMMMG): Lohnindexierung und von den Sozialpartnern beschlossene Aufwertung
Der Mindestlohn wird in Belgien vom Nationalen Rat für Arbeit (Conseil National du Travail, CNT) in zwei Tarifverträgen festgelegt: dem Tarifvertrag Nr. 43 und dem Tarifvertrag Nr. 50. Der Tarifvertrag Nr. 43 gilt für Arbeitnehmer ab 18 Jahren, und der Tarifvertrag Nr. 50 gilt für Arbeitnehmer unter 18 Jahren und Studierende, die einen altersabhängigen Prozentsatz des RMMMG erhalten.
In Belgien gibt es ein allgemeines Indexierungssystem für Löhne und Gehälter. Wenn der Gesundheitsindex (entspricht der Inflation abzüglich gesundheitsschädlicher Produkte wie Tabak) um mehr als 2% über dem vorherigen Leitindex liegt, werden die Löhne (einschließlich des RMMMG) automatisch um 2% erhöht.
Vor dem Hintergrund des Preisanstiegs wurden der RMMMG und die Gehälter am 1. Januar 2023 um 2% gegenüber November 2022 angehoben. Da der Leitindex im Oktober 2023 überschritten wurde, wurde im November 2023 eine weitere Erhöhung um 2% vorgenommen. Das belgische föderale Planungsbüro (Le Bureau fédéral du Plan belge) geht davon aus, dass der Leitindex im März und September 2024 in Verbindung mit der Inflation überschritten wird.
Eine im Juni 2021 unterzeichnete branchenübergreifende Vereinbarung beschloss zwei weitere Erhöhungen für den RMMMG von 35 € brutto pro Monat im April 2024 und April 2026.
Starke Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland
Im Oktober 2022 hatte die Mindestlohnkommission eine starke Erhöhung des Mindestlohns beschlossen und diesen auf 12 € brutto pro Stunde festgesetzt, was einer Steigerung von 22,2 % gegenüber Januar 2022 entspricht. Dies war die stärkste Erhöhung des Mindestlohns seit seiner Einführung im Jahr 2015.
Eine Erhöhung des Bruttostundenlohns auf 12,41 € erfolgte am 1. Januar 2024. Eine Erhöhung auf 12,82 € ist für den 1. Januar 2025 geplant. Diese Erhöhungen finden vor dem Hintergrund einer Inflation statt.
Der tarifvertragliche Mindeststundensatz darf nicht unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Die Tarifverhandlungen haben daher in vielen Branchen zu Lohnerhöhungen geführt. Auch einige Branchenmindestlöhne wurden angehoben, um nicht gerade auf dem Niveau des Mindestlohns zu liegen.
Eine doppelte Anpassung des Mindestlohns (SMIC) im Jahr 2023 aufgrund der Inflation
Vor dem Hintergrund einer hohen Inflation wurde der französische Mindestlohn (Salaire Minimum de Croissance, SMIC) im Jahr 2023 zweimal angehoben: Die erste Erhöhung erfolgte im Januar 2023 (+1,81 %). In Anwendung der jährlichen gesetzlichen Aufwertung wurde er am 1. Mai 2023 um 2,22 % erhöht.
Denn wenn der Verbraucherpreisindex um mindestens 2 % im Vergleich zu dem Index steigt, der bei der Festlegung des letzten SMIC-Betrags festgestellt wurde, wird dieser automatisch im gleichen Verhältnis angehoben.
Laut dem Bericht der SMIC-Expertengruppe an die Regierung1 war der Anstieg zwischen Mai 2022 und Mai 2023 dynamischer als die Preissteigerung im gleichen Zeitraum (5,1 % für die Gesamtinflation und 5,3 % für die Inflation des ersten Quintils der Verteilung der Lebensstandards), wodurch die Kaufkraft der Arbeitnehmer, die nach dem SMIC bezahlt werden, erhalten werden konnte. Aus diesem Grund gab es 2023 keinen „Anstoß“ seitens der Regierung. Im Vergleich dazu schienen, ebenfalls dem Bericht zufolge, die Branchenverhandlungen weniger in der Lage zu sein, kurzfristig eine Rolle bei der Anpassung der Löhne an die wieder anziehende Inflation zu erfüllen. Die aufeinanderfolgenden Aufwertungen des SMIC in diesem Zeitraum haben dazu geführt, dass eine große Anzahl von Branchenmindestlöhnen (Tariflöhne) nicht mehr konform2 sind.
Am 1. Januar 2024 wurde der SMIC um 1,13 % erhöht, was einer Erhöhung aufgrund einer geringeren Inflation entspricht.
[1] « Salaire minimum interprofessionnel de croissance ». Rapport annuel sur le SMIC au gouvernement, présidé par Gilbert Cette (Neoma Business School), Novembre 2023.
[2] Der tarifvertragliche Mindeststundensatz darf nicht unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.
Aufwertung des luxemburgischen Mindestlohns (SSM) vor dem Hintergrund der Inflation
In Luxemburg werden alle Gehälter an den Verbraucherpreisindex angepasst. Ab einer Preisinflation von etwa 2,5 % steigen die Löhne, Gehälter und Renten ebenfalls um 2,5 %.
Im Jahr 2023 gab es drei Erhöhungen: Eine erste Erhöhung im Januar 2023 um 3,2 % für alle Löhne und Gehälter, einschließlich des sozialen Mindestlohns und des sozialen Mindestlohns für Ungelernte, sowie für Löhne und Renten. Eine zweite Erhöhung erfolgte im April um 5 % und im September um 2,5 %. Somit sind die Löhne, einschließlich des Mindestlohns, im Jahr 2023 um 10 % gestiegen.
Der luxemburgische Mindestlohn ist der höchste in den Ländern der Europäischen Union. Dennoch, wenn man in Bezug auf die Kaufkraft argumentiert, rutscht Luxemburg nach Deutschland und Belgien auf den dritten Platz.
Laut der Studie der Chambre des Salariés du Luxembourg1 ist der luxemburgische Mindestlohn nicht außergewöhnlich hoch. Er beträgt im März 2022 nur 41 % des durchschnittlichen Gesamtlohns und 65,1 % des mittleren Grundlohns.
[1] Chambre des Salariés au Luxembourg (2023) : Portrait de la population au salaire minimum. Octobre 2023.